Während der Ausgrabung von Odagsen I entdeckte K. Raddatz auf dem Hof des Landwirtes Wille (Odagsen) einen verzierten Sandstein, der vom Landwirt zuvor 1 km nördlich des Dorfes geborgen worden war. Der Fund wurde bereits mehrfach als Grab kartiert, die bisher publizierten Informationen sind jedoch nur spärlich (Heege/Heege 1989, 16 Abb. 6; Heege/Heege/Werben 1990/91, 87 Abb. 1,4; 121). Zwei weitere Steine waren in dem benachbarten Bachlauf der Rebbe versenkt worden und wurden 1990 geborgen (E. und A. Heege, U. und St. Werben), erwiesen sich jedoch als unverziert.
Der verzierte Stein ist im Foyer des Städtischen Museums Einbeck ausgestellt. In der momentanen Orientierung ist der Stein maximal 99 cm hoch, 92 cm breit und 25 cm dick (Abb. 1). Auf der oberen, unteren und rechten Schmalseite zeigt der Stein noch recht scharf ausgeprägte, wenig verrundete Bruchgrate; die linke Schmalseite und die Schauseite sind im Vergleich sehr glatt. Die Front weist am rechten Rand durch das Abplatzen des deutlich geschichteten Gesteins eine Stufe auf. Diese Stufe ist stark verrundet und älter als die darüber laufende Verzierung. Diese Verrundung und die Glätte der Front und linken Schmalseite ist ein Hinweis auf eine lange Exposition des Steines in einem natürlichen Aufschluß. Der Stein stammt vermutlich vom Höhenzug der Ahlsburg in ca. 3 km Entfernung.
Abb. 1: Odagsen III. Vorder- und Seitenansicht des Leiterbandsteins. Maßstab in Dezimetern.
Fig 1: Front and side view of the ornamented stone (scale in decimetres).
© Christoph Rinne
Auf der oberen Hälfte des Steines verläuft durchgehend über die linke Schmalseite und die Breitseite ein horizontales Leiterband. Die Verzierung wurde zuerst eingepickt - dies belegen die zahlreichen, noch sehr deutlich zu erkennenden Mulden am Grund der Furche - und abschließend wohl durch Ritzen in Längsrichtung nachgearbeitet. Die Kanten der Linien sind auf der Schauseite bisweilen erstaunlich scharfkantig und erwecken den Eindruck einer modernen Nachbearbeitung.
Die Streben des Leiterbandes verlaufen auf der Schmalseite des Steines mit einem Abstand von 17 cm exakt parallel und laufen nur auf der Breitseite bis zu einem Abstand von 20 cm am rechten Ende auseinander. Die vertikal verlaufenden Sprossen beginnen jeweils an der oberen Strebe und ziehen senkrecht nach unten jeweils 2 bis 4 cm über die untere Strebe hinaus. Auf der Breitseite sind 33 Sprossen mit einem regelmäßigen Abstand von ca. 2,8 cm zu erkennen, auf der Schmalseite 10 Sprossen mit einem ebenfalls sehr regelmäßigen Abstand von ca. 2,5 cm. In den Vertiefungen konnten makroskopisch keine Reste von Farbpigmenten festgestellt werden. Die Verzierung wird durch die Bruchkante entlang der oberen und rechten Schmalseite unterbrochen.
Unmittelbare Vergleiche können für das horizontale Leiterband mit den einseitig überkragenden Sprossen nicht angeführt werden. Dennoch begegnet das Motiv der Steg- oder Sprossenleiter im Jungneolithikum häufig. Vorrangig sind hier die verzierten Steinkammern von Göhlitzsch (Ortsteil Leuna, Kr. Merseburg) und auf der Dölauer Heide bei Halle zu nennen. Bei der Kammer von Göhlitzsch tritt auf der Platte des Westgiebels ein horizontales Band aus drei Linien mit seitlich angesetzten Fransen auf und erinnert an den unteren Abschluß des Odagser Leiterbandes. Bemerkenswert ist dieser Stein vor allem wegen des Ornamentfeldes aus vier Spitzovalen, das eine bisher unerwähnte und doch bestechende Parallele in der Verzierung einer Tontrommel von der Siedlung auf dem Langen Berg in der Dölauer Heide findet (D.W. Müller 1994, 161 Abb. 66.; Behrens 1973, 108 Abb. 43p). Dieser Vergleich ergänzt gut die jüngere naturwissenschaftliche Datierung der Göhlitzscher Kammer in das letzte Drittel des 4. Jt. v. Chr. (D.W. Müller 1994, 178; das unkalibriert genannte Datum ergibt 3360-3100 cal BC).
In der Kammer von der Dölauer Heide begegnet das Motiv der horizontalen Leiter nur als mehrzeiliges Band auf den Steinen 3 und 4 (Behrens et al. 1956, Taf. 8A; 9. D.W. Müller 1994, Taf. 2; 3). In diesem Band verliert die Leiter ihre Individualität und büßt somit vermutlich auch an Symbolgehalt zugunsten der flächigen Verzierung ein. Als individuelles Motiv, jedoch von untergeordneter Größe und wohl auch Bedeutung, begegnet das Leiterband des weiteren auf einem Stein aus dem schnurkeramischen Grab von Hornburg und dem Menhir aus der jungneolithischen Grabanlage von Langeneichstädt, beide Ldkr. Querfurt (D.W. Müller 1994, 162 Abb. 71; 167; 173f. Abb. 74; 75. ders. 1988, 194 Abb. 2; Taf. 29b). Während die sekundäre Verwendung des Steines in Hornburg Hinweis auf einen älteren und damit wohl jungneolithischen Ursprung ist, erlaubt die offensichtlich sekundäre Verwendung des Menhirs in Langeneichstädt mehrere Deutungen und in der Folge auch ältere Datierungen (D.W. Müller 1988, 198).
Sehr häufig begegnet das Leitermotiv auf der Keramik der norddeutschen Trichterbecherkultur. Als horizontales Muster am Gefäßrand oder vertikales Verzierungselement auf dem Gefäßkörper tritt es vor allem in der frühen Phase der Trichterbecherkultur auf. Im Horizont 2 wird es als Randverzierung eventuell von Zickzackbändern abgelöst (Brindley 1986, 94 f.; 113 Abb. 3; 4). Auch in der altmärkischen Tiefstichkeramik wurde es regelmäßig verwendet, überwiegend als senkrechtes, bisweilen aber auch als horizontales Muster (Preuß 1980, Taf. 17,1; 18,1.22.23; 19,4; 21,7.15.18; 30,11; 43,1). Schwierig ist hier in seltenen Fällen die Abgrenzung zu den breiten Furchenstichreihen, die ein sehr ähnliches Bild ergeben (Preuß 1980, Taf. 18,15; 21,15). Das Leiterbandmuster ist jedoch nicht nur in diesem frühen Horizont des norddeutschen Mittelneolithikums (MN I) vertreten, sondern findet sich auch im mitteldeutschen Kollektivgrabhorizont. Hervorzuheben ist eine gehenkelte Trommel aus dem Grab von Klein Quenstedt, die auf Körper und Fuß zahlreiche vertikale Leiterbänder zeigt (D.W. Müller 1994, 82; 112 Abb. 27,8). Nach den vergesellschafteten Funden ist sie wohl dem jüngsten, durch klassische Bernburger Formen geprägten Horizont 3 zuzuweisen (D.W. Müller 1994, 139 Abb. 53). Zu ergänzen ist zudem das Grab von Heiligenthal mit Scherben von zwei Gefäßen, die senkrechte und waagerechte Leiterbänder zeigen. Vergesellschaftet sind breite Bandhenkel, die wohl der Bernburger Kultur zuzusprechen sind, aber auch ein kreisaugenverziertes Gefäß und eine mit mehrzeiligem Stacheldrahtband innen verzierte Schale. Letztere lassen sich auf Salzmünder oder Walternienburger Einflüsse zurückführen (D.W. Müller 1994, 146; 148 Abb. 58,6.10.16.19.29.30). In diesem Grab taucht auch das sogenannte Kammotiv auf, das regelmäßig auf Walternienburger Keramik begegnet und an die überkragenden Sprossen des Odagser Leiterbandes erinnern (D.W. Müller 1994, 148 Abb. 58,21. Behrens 1973, 101ff. Abb. 39i; 40i).
Demgegenüber sind Gitter und parallele Linien in der Verzierung französischer Megalithgräber insgesamt rar (Twohig 1981, 54ff. Abb. 3; 80ff. Abb. 9; 10; 86ff.; besonders 92). Die in Westeuropa stattdessen häufig verwendeten Elemente: Dolmengötting, Schild(-buckel, engl. buckle), Axt und Joch oder M-Motiv (engl. yoke) finden sich zwar auch im Kontext der hier aufgezählten Vergleiche, fehlen jedoch auf dem Stein von Odagsen. Damit kann ein westeuropäischer Einfluß auf den Stein von Odagsen ausgeschlossen werden.
Der sehr plattige, mit einem Leiterband verzierte Stein von Odagsen darf wohl als letzter Rest einer zerstörten jungneolithischen Grabkammer gedeutet werden. Eine Konstruktion aus großen Steinplatten in der Form mitteldeutscher Kammern ist naheliegend. Für die Verzierung sind ebenfalls mitteldeutsche Bezüge aufzuzeigen; darüberhinaus ist das Motiv besonders häufig auf der Keramik der norddeutschen Trichterbecherkultur vertreten.
Behrens, Hermann:
Die Jungsteinzeit im Mittelelbe-Saale-Gebiet. Veröffentlichungen des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle 27, 1973.
Behrens, Hermann / Faßhauer, Paul / Kirchner, Horst:
Ein neues innenverziertes Steinkammergrab der Schnurkeramik aus der Dölauer Heide bei Halle (Saale). Jahresschrift für mitteldeutsche Vorgeschichte 40, 1956, 13-50.
Brindley, Anna L.:
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Heege, Elke / Heege, Andreas:
Die Häuser der Toten. Jungsteinzeitliche Kollektivgräber im Ldkr. Northeim. Wegweiser zur Vor- und Frühgeschichte Niedersachsens 16. Hildesheim 1989.
Heege, Elke / Heege, Andreas / Werben, Ursula:
Zwei jungneolithische Erdwerke aus Südniedersachsen – Der "Kleine Heldenberg" bei Salzderhelden, Stadt Einbeck, und das Erdwerk am Kiessee bei Northeim - Archäologische Funde und Befunde. Die Kunde 41/42, 1990/91, 85-126.
Müller, Detlef W.:
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Müller, Detlef W.:
Die Bernburger Kultur Mitteldeutschlands im Spiegel ihrer nichtmegalithischen Kollektivgräber. Jahresschrift für mitteldeutsche Vorgeschichte 76, 1994, 75-200.
Preuß, Joachim:
Die altmärkische Gruppe der Tiefstichkeramik. Veröffentlichungen des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle 33. Berlin 1980.
Twohig, Elizabeth Shee:
The megalithic art in western Europe. Oxford 1981.